Meine Damen und Herren! Am Eingangstor eines Friedhofes las ich einmal die Inschrift: "Laßt, die Ihr da eingeht, jede Hoffnung schwinden!" Wenn ich so das leere, das interesselose Haus sowie die leeren Ministerbänke betrachte, noch dazu gelegentlich einer angeblich weltbewegenden Genuadebatte, dann muß ich immer, wenn ich da zur Tür hereinkomme, man diese Inschrift denken.
Der Herr Außenminister ist unserer Forderung, vor seiner Abreise nach Genua hier eine Aussprache über die dort einzunehmende Haltung abzuführen, ausgewichen. Seine Abneigung, sich auch mit der Opposition über die Richtlinien seiner Politik auseinanderzusetzen, wird verständlich, wenn man in seinem Exposée die Charakterisierung der Opposition liest. Der Herr Ministerpräsident spricht da der Opposition das moralische Recht ab, heute die Forderung nach demokratischem Fortschritt, nach nationaler und sozialer Gerechtigkeit zu vertreten, weil, wie er behauptet, wir vor dem Umsturz die Schützer der wirklichen Reaktion und Gewaltherrschaft gewesen sind. Mit dieser Unterstellung sucht der Herr Ministerpräsident die um ihr Recht betrogenen und vergewaltigten nationalen Minderheiten vor Europa und darüber hinaus zu diskreditieren, darauf bauend, daß unsere schwachen Hilfsmittel seinem mit Millionen Regierungsgeldern gespeisten Apparat der Auslandspropaganda nicht werden begegnen können. Schon auf der Pariser Friedenskonferenz bediente sich Herr Dr. Beneš der gleichen unlauteren diplomatischen Waffen. Bekanntlich hatte die Friedenskonferenz auch nach Deutschböhmen eine Studienkommission entesendet, die sich von den Verhältnissen und staatsrechtlichen Wünschen der Bevölkerung an Ort und Stelle unterrichten sollte. Die Kommission, deren Führer der amerikanische Professor Dr. Koerner war, war unter anderem auch in Brüx, Dux und Teplitz. Sie hielt uns vor allem die von den Èechen in Paris aufgestellte Behauptung entgegen, daß wir Sudetendeutschen erst nach dem verlorenen Kriege für die sich aus dem Selbstbestimmungsrechte ergebenden Forderungen eingetreten sind. Wir konnten den Herren damals an der Hand der geschichtlichen Tatsachen das Gegenteil beweisen und die Herren waren ganz offentsichtlich erstaunt über die Methoden der èechischen Politik. Der Geist des Kapitalismus und des Imperialismus, der die Friedenskonferenz beherrscte, hat verhindert, daß sich dort die wenigen Stimmen der Vernunft und Rechtlichkeit durchsetzen konnten. Die Folgen des Verrates an den Prinzipien, für die man angeblich gekämpft hat, sind rascher eingetreten, als wir voraussahen. Die Welt sieht die Dinge doch schon mit etwas anderen Augen an, als in den Tagen von Versailles, St. Germain, Trianon usw. Und es wird Herrn Dr. Beneš auf die Dauer nicht gelingen, sie mit den alten Mitteln seiner diplomatischen Kunst zu täuschen. Angesichts der immer wiederkehrenden Behauptung, daß wir Sudetendeutschen erst jetzt für das Recht der Selbstbestimmung eintreten, sei es mir gestattet, doch darauf zu verweisen, daß die Sudetendeutschen schon im alten Österreich Jahre- und Jahrelang vor dem Kriege immer auf dem Standpunkt der nationalen Selbstverwaltung und der Zweiteilung der Sudetenländer gestanden sind. Ich darf darauf verweisen, daß beispielsweise in Mähren die Deutschen, die infolge des Privilegienwahlrechtes damals die Herrschaft, das heißt die Mehrheit in der Regierung besaßen, sich durch den Ausgleich freiwillig dieser Mehrheit begaben und mit den Èechen einen Ausgleich auf Grund der Grundsätze der Selbstverwaltung schufen. Wenn ein gleicher Ausgleich nicht auch hier in Böhmen zustande kam, so lag dies sicherlich nicht an den Deutschen Böhmens, sondern es lag, wie es heute jeder in den geschichtlichen Akten nachsehen kann, an der Haltung der Èechen. Ich darf ferner darauf verweisen, daß im alten Österreich seit dem Brünner Parteitag, auf dem auch noch die èechischen Genossen mitberaten und mitbestimmt haben, die sozialdemokratische Partei, also unsere heutige größte deutsche Partei, einen entschiedenen Kampf um die Neuordnung Österreichs auf Grundlage der Selbstverwaltung führte, und es ist eine der schmerzlichsten Tatsachen, daß die èechischen Genossen, die damals mitberaten und mitbestimmt haben, hier diesen Grundsatz in einer so schmählichen Weise verleugnen. Ich darf darauf verweisen, daß im alten Österreich auch im Wiener Reichsrat von deutscher nationaler Seite die Forderung nach einer Neuordnung auf Grund der Selbstverwaltung der Völker wiederholt erhoben und vertreten wurde. Das sind geschichtliche Tatsachen, die angesichts der immer wiederkehrenden Unterstellung im In- und Auslande, als ob wir erst nach dem Kriege das Recht der Selbstbestimmung entdeckt hätten, immer wieder festgestellt werden müssen. Und ich verweise auch darauf, daß wir deutschen Nationalsozialisten in einer Denkschrift an die österreichische Regierung die Neuordnung auf Grundlage der Selbstverwaltung der Völker gefordert haben, zu einer Zeit, als die Heere der Mittelmächte siegreich vor Paris standen, zu einer Zeit, da noch mancher der Herren Machthaber von heute auf dieser Seite die Klinken der Wiener Ministerie putzte, um die unterschiedlichen Knopflochschmerzen seiner Konnationalen zu erfüllen. Ich stelle dies angesichts der neuerlichen Unterstellung des Herrn Außenministers ausdrücklich fest und sage, daß wir wohl auf Grund dieser unserer Haltung ein Recht darauf haben, unsere Stimme im Namen der nationalen und sozialen Gerechtigkeit ziu erheben, und wir werden dies tun, solange in diesem Staate Rückschritt und Gewalt regieren. (Sehr richtig!)
Meine Damen und Herren! In der Politik des èechischen Staates oder der èechischen Staatslenker spielt die angebliche psychologische Einstellung des èechischen Volkes eine große Rolle. Die Herren sind, wenn es nach ihren Worten geht, vom besten Willen erfüllt, einer gerechten Ordnung die Wege zu bahnen, aber es verstellt ihnen, wie sie sagen, immer die leidenschaftliche Psychose ihrer Volksmassen, die jedes Abweichen von der bisherigen Politik als Verrat an ihren nationalen Interessen betrachten, den Weg. Wir wissen, daß diese Psychose künstlich genährt wird und zu dieser künstlichen Nahrung trägt zweifellos die Charakterisierung der Opposition seseitens des Herrn Ministterpräsidenten in seinem Exposé nicht wenig bei. Herr Dr. Kramáø und Fräulein Zemin haben die Worte des Herrn Ministerpräsidenten mit Beifall quittiert, daß seine politischen Gegner trotz seiner Darlegungen im Exposée auch weiterhin von Vasallentum reden werden, weil sie den Staat auf jeden Fall schädigen wollen. Nun, meine Herren von der Regierungsmehrheit, uch unsere politische Haltung und uch unser Handeln wird von Stimmungen beeinflußt, aber nicht von künstlichen. Wenn wir daran denken, wie wir einst in einem anderen Völkerstaate auch für das Recht Ihres Volkes, für Ihre nationalen Grundrechte eingetreten sind, wenn wir dann sehen, daß Sie heute, gestützt auf eigene und französische Bajonette, die nationalen Rechte aller Minderheitsvölker dieses Staates beugen und deren kulturelll und wirtschaftliche Güter zu vernichten suchen, dann wird in uns eine Stimmung wach, die einmal auch vor dem letzten Kampfmittel nicht zurückschrecken wird.
Unsere Auffassung über die Bedeutung der Genueser Konferenz habe ich an dieser Stelle bereits vor der Abreise des Herrn Ministerpräsidenten Dr. Beneš kurz dargelegt. Ich sagte damals, daß in Genua zwei Gruppen einander gegenüber stehen werden, die eine, die weiter vernichten und von der Frohnarbeit anderer leben will, die andere, die Europa in gemeinsamer Arbeit aller Völker wieder aufbauen und aus dem Chaos und den Krisen herausführen will. Das Exposé des Herrn Ministerpräsidenten bestätigt das Vorhandensein dieser beiden Richtungen, die er als die französische auf der einen Seite und die englisch-italienische auf der anderen Seite hinstellt. Wir erwarteten von einer Durchsetzung der zweiten Richtung keinen gründlichen Wandel, weil sich auch diese Richtung nicht freimachen kann von dem Geist und dem Buchstaben der Friedensdiktate. Aber ein Erfolg der Konferenz im Sinne der zweiten Richtung, der sogenannten englisch-italienischen, hätte die Hoffnung berechtigt erscheinen lassen, daß sich eine friedliche Revision der unmöglichen Friedensverträge anbahnen wird. Es wäre in Europa eine gewisse Beruhigung und ein wenig Vertrauen eingekehrt, die Notwendigkeit aller gemeinsamen Wiederaufbauarbeit sind. Diese Hoffnungen und Erwartungen haben sich in Genua nicht erfüllt. Vielleicht erschrecken die schuldigen Staatsmänner, heimgekehrt in ihre von inneren Kämpfen und wirtschaftlichen Krisen durchschüttelten und zerrütteten Länder, über diesen Ausgang der Konferenz, vielleicht kehrt Ernüchterung in Paris und Prag ein, den Hauptschuldigen an dem resultatlosen Ausgang der Konferenz. Vielleicht bringen die stillstehenden Fabriken, die Hunderttausende von Arbeitslosen, der ganze parlamentarische Jammer hier und die steigende Erbitterung der nationalen Minderheiten Herrn Dr. Beneš noch rechtzeitig zum Bewußtsein, daß das Intersse seines Volkes nicht in der Einhaltung und Zurgeltungbringung der Friedensverträge, sondern deren gründlicher Revision und in der Abkehr von dem Geiste liegt, der sie diktierte. Eines haben aber die Tage von Genua den Schöpfern und Hütern der Friedensdikate ganz offenkunk dig gezeigt, daß nämlich die politische und wirtschaftliche Entwicklung Europas einen anderen Weg nimmt als den in den hunderten von Paragraphen der Friedensprotokolle vorgezeichneten und eingegrenzten. Das deutsch-russische Bündnis ist die erste Etappe auf dem Wege, der, entgegengesetzt dem von Versailles und St. Germain, zu einer Neuordnung nach den Grundsätzen führt, die in Paris verraten wurden. Wir sind Gegner der kommunistischen Ideen und bolschewistischen Methooden und wir würden uns von einem Bündnis mit solchen weder für Deutschland, noch für den europäischen Wiederaufbau etwas versprechen. Die Theorie des Kommunismus mag die treibende Kraft der russischen Revolution gewesen sein, sie ist aber nicht die treibende Kraft des deutsch-russischen Bündnisses. Denn die Verwirklichung der Theorien ist gescheitert und mußte scheitern an ihrer Undurchführbarkeit. Heute stellt sich uns das bolschewistische System in Rußland als eine sozialfortschrittliche, auf die ntionale Unabhängigkeit und kulturelle Entwicklung des russischen Volkes bedachte Macht dar. In diesem sozialen und politischen Ziele treffen sich heute das deutsche und das russische Volk, beide haben einander nichts zu nehmen, sie haben einander aber viel zu geben. Die heutige Übergangserscheinung der Regierungsform kann uns an dieser Auffassung nicht irre machen. Die französische Kräftegruppe der europäischen Politik will sich dieser Entwicklung nun mit dem Säbel entgegenstellen und sie baut auf die Hilfsbereitschaft des Herrn Dr. Beneš, der da vor eine Entscheidung gestellt ist, daß er mit seinem "Einerseits" und "Andererseits" nicht mehr lange wird auskommen können. Es ist keine Frage, daß die bisherige Politik unseres Außenministers die franösische Politik, deren bewegende Krofte der Kapitalismus und Militarismus sind, in ihrer Angriffslust bestärkt hat. Ein großer Teil der Schuld an dem resultatlosen Verlauf der Genueser Konferenz fällt daher auch Herrn Dr. Beneš zu. Wir wissen, daß er durch Gefühle der Dankbarkeit und durch militärische Verträge an Frankreich gebunden ist. Aus zuverlässiger Quelle kommt uns die Mitteilung, daß Herr Beneš mit Frankreich sogar einen Geheimvertrag abgeschlossen hat, worin er sich verpflichtet, im Falle eines politischen Konfliktes 500.000 Mann gegen Deutschland ins Feld zu stellen. Seine Pflicht als verantwortlicher Staatsmann wäre es, seinen Verbündeten offen zu sagen, daß die Voraussetzungen, unter denen er das Bündnis geschlossen hat, nicht gegeben sind, denn die große Mehrheit der Bevölkerung seines Staates steht heute nicht hinter seiner Politik, und daran wird auch die Abstimmung, die ihm heute oder morgen zweifellos das Vertrauen votieren wird, nichts ändern. Der Versuch einer militärischen Aktion gegen Deutschland oder Rußland würde mit einem inneren Débâcle der Armee enden. Das müßte Herr Beneš in Paris sagen, wenn er in Wahrheit seinem Volke dient und dem europäischen Frieden und dem europäischen Wiederaufbau zustrebt. Jede andere Haltung ist Katastrophenpolitik, ist imperialistischer Großmachtdünkel. Die èechischen Machthaber von heute leiten das Recht, die Verfassung des Staates selbst zu bestimmen, von der siegreichen Revolution ihres Volkes ab. Für sie ist die siegreiche Revolution die Rechtsquelle. Mit Demokratie hat das zwar ebensowenig zu tun, wie die Reaktion mit dem Fortschritt, aber wenn die Herren diesem Rechtsgrundsatz huldigen, müssen sie diese Rechtsauslegung auch anderen zubilligen, und der Regierung sollte z. B. für ihre Haltung gegenüber Rußland einzig und allein diese Rechtsauffassung maßgebend sein. Wie in allem, was sie nichts angeht, mischt sie sich auch in die inneren Verhältnisse Rußlands ein und Dr. Beneš vertritt in seinem Exposé die Anschauung, daß es zu einer wirklichen Einigung mit diesem Staate unter den gegebenen Verhältnissen nur einen Weg gibt. Diesen einen Weg sieht er in dem offenen Bekenntnis der Sowjets, daß sie nicht mehr auf dem konsequent kommunistischen Standpunkt stehen, daß sie Kompromisse in allen Fragen, die in Genua aufgetaucht sind, schließen müssen, und zwar nicht bloß Kompromisse in der internationalen Politik, sondern auch Kompromisse in der Innenpolitik mit der nichtkommunstischen Bevölkerung. Die erstetere Forderung ist nichts anderes als die Forderung einer Verbeugung vor dem kapitalisttischem Geßlerhut, denn praktisch stehen die Sowjets längst nicht mehr auf dem kommunistischen Standpunkt. Die letztere Forderung gewinnt für uns ein besonderes Interesse. Von den russischen Machthabern fordert Herr Dr. Beneš eine Demokratisierung der Regierungs form, im eigenen Land aber regiert man diktatorisch und stützt sein Regime auf Zensur, Staatsanwalt und Bajonette. (Posl. Patzel: Und Standrecht!) Ganz richtig, und Standrecht. In Karpathorußland sind noch nicht einmal die Wahlen ausgeschrieben, obwohl diesem Land die Autonomie sogar in dem Fried ensvertrag garantiert ist.
Meine Herren, der Kollege Dr.
Baeran wurde kürzlich auf seinen Geisteszustand hin untersucht,
weil er die Behauptungvertritt, daß das deutsche Volk in diesem
Staate unterdrückt ist. Das wurde als eine fixe Idee bingei stellt
und zwei Spezialärzte haben sich stundenlang mit dem Herrn Kollegen
beschäftigt, und zwar während seiner Untersuchungshaft. Es ist
kein Wunder, wenn das èechische Volk in dem Sinn beeinflußt wird,
wenn selbst der Außenminister Dr. Beneš in seinem Exosé
davon spricht, daß es auf dem Wege der Auslandspropaganda gelungen
ist, eine Legende zu bilden, die die kleinen Staaten, speziell
se nen Staaat, als chauvinistischer und militaristischer hinstelle,
als die großen Staaten nun, vielleicht wird auch das, was ich
hier über die inneren Zustände dargelegt habe, als Legende betrachtet
werden und wir alle laufen langngsam Gefahr, daß wir infolge solcher
Anschauungen gleichfalls auf unseren Geisteszustand hin uhtersucht
werden. Nun, ich meine, ein Ertreuliches können wir dem Exposé
entnehmen, das ist vielleicht das Erfreulichste, daß nämlich unsere
Legende schon auf fruchtbaren Boden gefallen ist und daß sich
die Großmäcbte langsam um die nationalen Minderheiten in den Nachfolgestaaten,
speziell bei uns, kümmern. Das möge uns ein Ansporn sein, unsere
innere Abwehr wirksamer zu gestalten und den Glauben an diese
legende im Auslande zu vertiefen. Das Weitere wird die Zeit bringen,
der wir, soweit das Schicksal unseres Volkes in Betracht kommt,
mit Vertrauen und Zuversicht entgegensehen. (Potlesk na levici.)
Hohes Haus! Man hat von der Konferenz in Genua mehr erwartet, man hat Anderes und man hat Größeres erwartet. Sie hat der wi rtschaftlichen Erneuerung Europas dienen sollen und ist in dieser Hinsicht keinen realen Schritt weitergekommen, weil die Erkenntnis der Schädlichkeit des herrschenden Systems, insbesondere des Hauptübels, der einseitigen Meistbegünstigung des Versailler Vertrages, auf der Konferenz nur eine theoretische und bedauernde blieb. Die ursprünglich wirtschaftlich intendierte Konferenz wurde zu einer politischen. Sie hat aber auch hier keinen der erwünschten Erfolge gebracht, trotzdem die Vertreter von 34 Staaten an ihr teilgenommen haben, trotzdem es keine Sieger und Besiegte gab und trotzdem durch das rein menschliche Näherrücken und durch persönliche Diskussion mancher alte Groll und manches alte Vorurteil hier gemildert wurde. Trotz dieser günstigen psychologischen Voraussetzungen kam aber ein konkretes Einvernehmen nicht zustande, es wurde zur Enttäuschung des friedensbedürftigen Europa eine wahre Friedenspolitik nicht eingeleitet und wir werden auf dem steinigen Wege zur endlichen Wiedergeburt unseres Erdteils nach dem Wort von Lloyd George noch manchen langfristigen Scheck auf unsere Geduld zu ziehen haben.
Aber es konnte fast nicht anders kommen. Und wenn der Herr Außenminister Dr. Beneš uns am 4. April bezüglich der Genueser Konferenz zur Geduld gemahnt hat, so wird er eben seine Pappenheimer in Genua gekannt haben. Der schwere Alp der Konferenz war die durch das Diktat Frankreichs erzwungene unverletzbare Heiligkeit von Versailles. Das Problem, an welchem nicht nur Deutschland lebt oder stirbt, durfte nicht erörtert werden: die Frage, was Deutschland bezahlen soll und was Dnutschland bezahlen kann, die Reparationsfrage; und so konnte auf dieser Konferenz der Weg zur internationalen Vernunft nicht gefunden werden.
Herr Dr. Beneš ist in seinem Exposé über diese Dinge, über die Verhältnisse in der Entente und über die Frage der eigenen politischen Abhängigkeit mit der ihm eigenen Fähigkeit zu sehr vorsichtigen Alternationen, deren Pendelschlag nach rechts und links der gleiche ist, hinübergeglitten. Gerade aber durch seine übervorsichtige Formulierung sind gewisse Tatsachen von Genua, deren Existenz man bisher zu verschleiern sich bemüht hat, in ein umso helleres Licht gerückt worden. Durch die Vorgänge von Genua ist es heute aller Welt klar, daß die Entente hinsichtlich des Geistes, der in der Nachkriegszeit herrscht, geteilt ist, daß zwei Standpunkte und damit zwei große Zukunftsprogramme einander gegenüberstehen, daß Frankreich einerseits, England und Italien andererseits nicht mehr auf den von Frankreich gewünschten Nenner gebracht werden können. Ich meine, Herr Dr. Beneš hätte diesen Teil seiner Äußerungen wahrscheinlich anders gefaßt, wenn er sein Exposé drei Tage später gehalten hätte, denn inzwischen ist ja die französische Kammerdebatte abgeführt worden, und da hat sich etwas abgespielt, was uns doch nur schon ganz eindeutig zeigt, daß die realpolitische Ernüchterung bezüglich der bisherigen französischen Politik und der Friedensverträge in Frankreich selbst nachhaltig eingetreten ist. Es hat bekanntlich der Deputierte Daudet den deutsch-russischen Vertrag in einer Weise bekämpft, der ihm den Neid von ultraradikalen Kreisen in diesem Parlamente eintragen könnte. Das Echo darauf war ein sehr merkwürdiges. Die Kammer schwieg auf den Appell zum entschiedenen Handeln nach dem 31. Mai vollständig, und der gewesene Staatssekretär Clemenceaus Favre, der einen amerikanischen Brief über die Befangenhnheit Frankreichs in der Vorkriegsideologie verlas, erklärte weiter, Frankreich werde sich am 31. Mai in einer mit Feindseligkeit geladenen Atmosphäre isoliert finden, kein Nachfolger Lloyd Georges werde eine andere Politik machen können als Lloyd George selbst, und es sei absurd, Deutschland 44 Jahre lang eine Reparationslast von 132 Milliarden tragen zu lassen. Ich frage angesichts dieser Tatsache: ist der Glaube an die Isolierung Frankreichs heute wirklich noch "ein Nichtverstehen der Lage in Europa?" In dieser Hinsicht also bezeichnet die Konferenz von Genua den Anfang vom Ende eines der schwersten und drückendsten Menschheitsirrtümer.
In dieser Beziehung ist Genua tatsächlich ein Markstein, der den Weg zur Revision der Friedensverträge deutlich weist. Genua ist eine Zäsur in der europäischen Geschichte. Ohne Schadenfreude, doch mit Genugtuung konstatieren wir den inneren Umschwung in der Entente, auf den wir geduldig die Jahre her haben warten müssen, und ebenso ruhig werden wir die weiteren Ernüchterungen, die folgerichtig dieser Umschwung bringen muß, abwarten.
Der nicht mehr zu überbrückende Widerspruch zwi schen Frankreich und England erschien im grellsten Lichte, als der Blitzstrahl von Genua niederzuckte, das deutsch-russische Abkommen, das Abkommen jener beiden Völker Europas, die nach dem schönen Worte von Lloyd George mehr nach Menschlichkeit hungern, als nach Brot. Das Problem Rußlands konnte trotz aller Anstrengungen Frankreichs von der Konferenz nicht mehr gebannt werden und es hat der Konferenz sein Siegel aufgedrückt. Es war gewiß ein Akt von dramatischer Steigerung, als die Vertreter Rußlands diesen Gewaltwillen Frankreichs, die russische Frage auf das Geleise der Schweigengen zu schieben, mit der Bekanntgabe des Sondervertrages von Rapallo parierten und dadurch jenes Ferment in die Konferenz warfen, das ihre innere Gährung be schleunigte. So ist Rußland nicht nur in die europaäische Politik wiederr einge treten, sondern es ist sofort als ein Machtfaktor eingetreten, mag es auch äußerlich ein Mächtiger in Bettlergewande gewesen sein.
Der deutsch-russische Verag war das Ereignis Kat exochen, das die Entente und Europa vor neue Tatsachen stellte und das besonders alle Wirklichkeiten der europäischen Lage der Welt vor Augen führte. Dieser ii Wirklichkeit ge enüber gab es kein Versteckenspiel mehr. Im Gefolge dieses ätzenden Fermentes mußte ans Tageslicht, was politische Opportunität oder politische Ranküne bisher zu verbergen getrachtet hatten. Die Dinge mußten unter Einwirkung dieses Fermentes ihr wahres Gesicht zeigen, und die Menschen den Dingen gegenüber ihre wahre Stellung. Und wenn Lloyd George am Schlusse der Konferenz diese feierlich als die denkwürdigste der Weltgeschichte bezeichnet hat, so war sicher bei dieser Einschätzung das folgenschwere russische Ereignis, das seinen Wiederhall in der ganzen Welt gefunden hat, maßgebend. Wir neigen nicht zu der Meinung, daß die reale Auswirkung des deutsch-russischen Vertrages sich schnell und ohne Hindernisse vollziehene werde; denn auch dieses Problem wird seinen Leidensweg gehen. Erst vor einigen Tagen hat ein Berliner Witzblatt Rathenau mit dem russischen Fruchtkorb gezeichnet, einen Fuß im Schlageisen, mit dem zweiten nicht im Stande, über einen vor ihm sich auftuenden Abgrund hinüberzuschreiten, also nicht im Stande, von den schönen Früchten dieses russischen Fruchtkorbes etwas zu genießen. Wir aber und die Welt dürfen fürderhin nicht die Augen verschließen vor den realen Tatsachen dieses historischen Ereignisses, in welchem im wahren Sinne des Wortes der Blinde den Lahmen auf den Rücken genommen hat, damit beide sich ergänzen und vorwärts kommen. Lloyd George hat den Kassandraruf ertönen lassen: "Was wird geschehen, wenn das hungernde Rußland durch deutsche Organisation gegen den Westen aufsteht?" In seiner berühmühmten nächtlichen Rede die Journalisten und im englischen Unterhaus ist er dem hohen Ernst dieses Ereignisses nicht aus dem Wege gegangen. Nun, meine Herren, wir denken nicht wie Lloyd George an künftige Rüstungen als Zweck dieses Bündnisses, wir denken nur an die verzweifelte Not, die die beidem Vertrags teile zusammengedrängt hat. Es ist die Verbindung zweier benachbarter Völker, die durch manche Tradition der Vergangenheit miteinander verbunden sind: das Volk der größten Arbeitsorganisation, der vollkommensten Technik und Industrie, das Volk der hochqualifizierten Arbeiter, Ingenieure und Gelehrten, das Volk, das ehrlich seine Entschädigungen bis zur Grenze des Möglichen leisten will, (Sehr richtig!) das verbündet sich, um seine Zukunft zu retten, mit dem an allen natürlichen Hilfsquellen, Rohstoffen und einer unverbrauchten Arbeitskraft reichsten russischen Volke, das sich aus eigener Kraft aus furchtbarer Not nicht mehr erheben kann und das gewillt ist, durch erhebliche Modifikationen seines inneren Wirtschaftssystems Konzessionen an das westeuropäische Wirtschaftssystem zu machen. Wenn wir all das überblicken, sehen wir, daß für Rußland der Eintritt in den Weltkrieg eigentlich das furchtbarste Unglück bedeutet hat, denn durch den Krieg und den Bolschewismus wurde alles begraben, was vor dem Kriege an guten Hoffnungen in Rußland vorhanden war. Und diese waren nicht gering. Rußland hatte damals eine aufblühende Landwirtschaft, dank dem großen Agrarreformwerk, das nach der Revolution durch Stolypin kräftig wieder aufgegriffen wurde, so daß Rußland auf diesem Weg nach Erschließung Sibiriens zum konkurrenzlosen Getreideversorger ganz Europas hätte werden können; seine Industrie strebte damals auf, seine Arbeiterschaft erwachte eben politisch, in den Städten entwickelte sich ein wohlhabendes Bürgertum das langsam auf Traditionen zurückblickte, eine achtunggebietende Wissenschaft, Kunst und eine ganz eigenartige Literatur; es ist zum Staunen, daß diese Verhältnisse sich unter dem Druck des Zarismus und der weiträumigen russischen Verwaltung überhaupt zu diesem günstigen Niveau entwickeln konnten. Das alles ist nun heute verloren, aber der Regenerierungsprozeß hat schon eingesetzt. Man mag sich dem Sowjetwesen gegenüberstellen we man will, in einem Staat, der zu 75 % von Bauern bewohnt ist, die der Scholle dienen, also von einem Element, das einen stark konservativen Einschlag hat, in einem solchen Staat ist die Erhaltung des kommunistischen Gedankens in Reinkultur und der Sowjetorganisation als der allein bestimmenden Macht auf die Dauer eine Unmnmöglichkeit. Heute klagen ja schon Wortführer des Kommunismus in Rußland, daß die Bauern in die Organisationen eindringen und sie ihnen zerstören, insbesondere auf auf dem Umweg der Armee. Ist Europa klaug, dann hilft es Rußland ohne Rücksicht auf Sowjets oder Nichtsowjets, sondern im eigigensten Interesse, es hilft Rußland seine politische und wirtschaftliche Entwicklung an den vergangenen Zustand wieder anzuknüpfen, und es behandelt Rußland so, wie es dieses Land nach seiner wirtschaftlichen und politischen Vergangenheit verdient. Rußland, der Riese, die Sphinx, ist das Land der ungngeahnten Möglichkeiten und das Land einer entschieden großen Zukunft. Der arbeitsame und pedantisch-organisatorische deutsche Herr Müller und der träumerischanarchistische Herr Oblomov beim russischen Dichter Gontscharow sind bekannt lich zwei einander ergänzende Typen, und schon heute können wi konstatieren, daß Rußland seine ärgste Oblomowschtschina überwunden hat. Mit den Sowjets oder gegen sie muß Europa um seiner selbst Willen Rußlands Absichten zur Regenerierung unterstützen. Das kan weder geschehen durch bewaffnete Intervention @a la Kramáø, noch durch Belastung der kommenden Generationen durch Forderungen des Ersatzes allerr iKriegskosten und Schulden @a la Frankreich, sondern einzig durch Hebung Rußlands durch Arbeit und durch Eröffnung freier Bahn für Produktion und Handel, durch den Weg, den Deutschland gehen will. Der deutsch-russische Vertrag hat die beiden menschenreichsten Völker Europas sich die Hand reichen lassen. Auch das fällt in die Wagschale in unserer harten Zeit, man möchte fast sagen leider, daß die materielle Gewalt noch eine solche Macht über die Ideen hat, und es entbehrt nicht einer gewissen Komik, daß man nach Ostern die bestürzten èechischen Blätter die Menschenmengen in beiden Lagern einschließlich Italiens und ausschließlich Italiens ängstlich ausbalanzieren gesehen hat.
Es sind schließlich, meine Herren, Germanen und Slaven, die am Ostersonntag in Rapallo einen Bund geschlossen haben, eine Tradition aufnehmend, die schon einmal auf einem Höhepunkt deutscher Geschichte das Rückgrat deutscher Politik gebildet hat. Es ist verlockend, darüber zu philosophieren, was Deutsche und Slaven einander zur Ergänzung zu bieten haben, und Bismarck, der bekanntlich starke Neigungen für die Slaven übrig hatte, hat sich über diese Ergänzung deutschen und slavischen Wesens seine Gedanken gemacht. Wir wollen nur hervorheben, daß sich durch das deutsch-russische Übereinkommen eine gemeinsame deutsch-slavische Interessensphäre in Europa gebildet hat. Es ist jetzt unsere Sache real zu erwägen, zu welcher dieser Interessensphären oder Wirtschaftssphären oder Kultursphären oder auch nur geographischen Sphären der èechische Binnenstaat gehört und wie sich die Politik dieses Staates wohl gestalten soll, damit sie ihm einen Vorteil bringe. Wir müssen darauf hinweisen, daß der germanische Teil dieses deutsch-russischen Blockes gleichbedeutend ist mit dem kräftigsten Wirtschaftsfaktor Mitteleuropas, mit dem arbeitsamsten und erfinderischesten und zähesten Volke, mit einer einzigartigen Organisationskraft, mit jenem Volke, welches vom Völkerschicksal auf drei Seiten zum Nachbar des èechischen Volkes und des jungen Staates dieses Volkes bestimmt wurde, der, wie einsichtsvolle Èechen sich schon lange nicht verhehlen, die Folgen einer unter den französischen Reparationen zusammenbrechenden deutschen Wirtschaft und Valuta unentrinnbar und furchtbar mitspürt!